Bildungs- und schulpolitische Kontexte: Reichsebene

Das erste Themenfeld der Ausstellung beschreibt den bildungs- und schulpolitischen Kontext auf Reichsebene und die „Weimarer Schulkompromisse“. Die Kompromisse waren die Schulartikel der Weimarer Reichsverfassung und das Reichs-Grundschulgesetz über eine vierjährige Grundschule für alle. Die Forderung nach gemeinsamer achtjähriger Grundschule für alle Kinder konnte sich nicht durchsetzen. Ein allgemeines Reichs-Schulgesetz kam nicht zustande. 

„Weimarer Schulkompromisse“ im Ergebnis der Koalitionsverhandlungen zur Bildung der Reichsregierung

Weimarer Reichsverfassung – Schulartikel 143-148 

Vierter Abschnitt – Bildung und Schule

Artikel 143
(1) Für die Bildung der Jugend ist durch öffentliche Anstalten zu sorgen. Bei ihrer Einrichtung wirken Reich, Länder und Gemeinden zusammen.
(2) Die Lehrerbildung ist nach den Grundsätzen, die für die höhere Bildung allgemein gelten, für das Reich einheitlich zu regeln.
(3) Die Lehrer an öffentlichen Schulen haben die Rechte und Pflichten der Staatsbeamten. 

Artikel 144
(1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates; er kann die Gemeinden daran beteiligen. Die Schulaufsicht wird durch hauptamtlich tätige, fachmännisch vorgebildete Beamte ausgeübt. 

Artikel 145
(1) Es besteht allgemeine Schulpflicht. Ihrer Erfüllung dient grundsätzlich die Volksschule mit mindestens acht Schuljahren und die anschließende Fortbildungsschule bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahre. Der Unterricht und die Lernmittel in den Volksschulen und Fortbildungsschulen sind unentgeltlich. 

Artikel 146
(1) Das öffentliche Schulwesen ist organisch auszugestalten. Auf einer für alle gemeinsamen Grundschule baut sich das mittlere und höhere Schulwesen auf. Für diesen Aufbau ist die Mannigfaltigkeit der Lebensberufe, für die Aufnahme eines Kindes in eine bestimmte Schule sind seine Anlage und Neigung, nicht die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung oder das Religionsbekenntnis seiner Eltern maßgebend.
(2) Innerhalb der Gemeinden sind indes auf Antrag von Erziehungsberechtigten Volksschulen ihres Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung einzurichten, soweit hierdurch ein geordneter Schulbetrieb, auch im Sinne des Abs. 1, nicht beeinträchtigt wird. Der Wille der Erziehungsberechtigten ist möglichst zu berücksichtigen. Das Nähere bestimmt die Landesgesetzgebung nach den Grundsätzen eines Reichsgesetzes.
(3) Für den Zugang Minderbemittelter zu den mittleren und höheren Schulen sind durch Reich, Länder und Gemeinden öffentliche Mittel bereitzustellen, insbesondere Erziehungsbeihilfen für die Eltern von Kindern, die zur Ausbildung auf mittleren und höheren Schulen für geeignet erachtet werden, bis zur Beendigung der Ausbildung. 

Artikel 147
(1) Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die Privatschulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist.
(2) Private Volksschulen sind nur zuzulassen, wenn für eine Minderheit von Erziehungsberechtigten, deren Wille nach Artikel 146 Abs. 2 zu berücksichtigen ist, eine öffentliche Volksschule ihres Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung in der Gemeinde nicht besteht oder die Unterrichtsverwaltung ein besonderes pädagogisches Interesse anerkennt.
(3) Private Vorschulen sind aufzuheben.
(4) Für private Schulen, die nicht als Ersatz für öffentliche Schulen dienen, verbleibt es bei dem geltenden Recht. 

Artikel 148
(1) In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben.
(2) Beim Unterricht in öffentlichen Schulen ist Bedacht zu nehmen, daß die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt werden.
(3) Staatsbürgerkunde und Arbeitsunterricht sind Lehrfächer der Schulen. Jeder Schüler erhält bei Beendigung der Schulpflicht einen Abdruck der Verfassung.
(4) Das Volksbildungswesen, einschließlich der Volkshochschulen, soll von Reich, Ländern und Gemeinden gefördert werden. 

Gesetz, betreffend die Grundschulen und Aufhebung der Vorschulen.

Vom 28. April 1920.

Die verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung hat das folgende Gesetz beschlossen, das nach Zustimmung des Reichsrats hiermit verkündet wird:

§ 1
[1] Die Volksschule ist in den vier untersten Jahrgängen als die für alle gemeinsame Grundschule, auf der sich auch das mittlere und höhere Schulwesen aufbaut, einzurichten. Die Vorschriften der Artikel 146 Abs. 2 und 174 der Verfassung des Deutschen Reichs gelten auch für die Grundschule.

[2] Die Grundschulklassen (-stufen) sollen unter voller Wahrung ihrer wesentlichen Aufgaben als Teile der Volksschule zugleich die ausreichende Vorbildung für den unmittelbaren Eintritt in eine mittlere und höhere Lehranstalt gewährleisten. Auf Hilfsschulklassen findet diese Bestimmung keine Anwendung.
[3] Für besondere Fälle können die Landeszentralbehörden zulassen, daß noch weitere Jahrgänge einer Volksschule als Grundschulklassen eingerichtet werden.

§ 2
[1] Die bestehenden öffentlichen Vorschulen und Vorschulklassen sind alsbald aufzuheben. Statt der sofortigen völligen Aufhebung kann auch ein Abbau in der Weise erfolgen, daß vom Beginne des Schuljahrs 1920/21 oder, wo dieses nicht angängig ist, spätestens vom Beginne des Schuljahrs 1921/22 an die unterste Klasse nicht mehr geführt wird und der gesamte Abbau spätestens zu Beginn des Schuljahrs 1924/25 abgeschlossen sein muß.
[2] Für private Vorschulen und Vorschulklassen gelten die gleichen Vorschriften, doch kann da, wo eine baldige Auflösung oder ein baldiger Abbau erhebliche wirtschaftliche Härten für die Lehrkräfte oder die Unterhaltungsträger mit sich bringen würde oder aus örtlichen Gründen untunlich ist, die völlige Auflösung bis zum Beginne des Schuljahrs 1929/39 aufgeschoben werden. Wird ein Aufschub gewährt, ist dafür zu sorgen, daß die Gesamtschülerzahl der Vorschulklassen der Privatschule den bisherigen Umfang nicht übersteigt. Ergeben sich durch die Auflösung oder den Abbau erhebliche wirtschaftliche Härten für die Lehrkräfte oder die Unterhaltungsträger, so ist aus öffentlichen Mitteln eine Entschädigung zu gewähren oder durch sonstige öffentliche Maßnahmen ein Ausgleich zu schaffen.
[3] Als Vorschulklassen im Sinne der Bestimmungen der Abs. 1 und 2 gelten stets die für Kinder in den ersten drei Schulpflichtsjahrgängen bestimmten Klassen an mittleren und höheren Lehranstalten sowie selbständig bestehende, zur Vorbereitung für den Eintritt in eine mittlere oder höhere Lehranstalt dienende Schulklassen. Allgemein oder für einzelne Schulgattungen oder einzelne Schulen kann auch die für einen weiteren Schulpflichtsjahrgang bestimmte Klasse zum Zwecke der Aufhebung für ein Vorschulklasse im Sinne dieser Bestimmung erklärt werden.

§ 3
Werden infolge der Aufhebung oder des Abbaus öffentlicher Vorschulen oder Vorschulklassen hauptamtlich angestellte Lehrer und Lehrerinnen in ihren bisherigen Stellungen entbehrlich, so können diese Lehrer (Lehrerinnen) auch gegen ihren Willen ohne Schädigung in ihren Gehaltsansprüchen an öffentliche Volksschulen oder an mittlere oder höhere Lehranstalten versetzt werden.

§ 4  
Privatunterricht für einzelne Kinder oder gemeinsamer Privatunterricht für Kinder mehrerer Familien, die sich zu diesem Zwecke zusammenschließen, darf an Stelle des Besuchs der Grundschule nur ausnahmsweise in besonderen Fällen zugelassen werden.

§ 5
Auf den Unterricht und die Erziehung blinder, taubstummer, schwerhöriger, sprachleidender, schwachsinniger, krankhaft veranlagter, sittlich gefährdeter oder verkrüppelter Kinder sowie auf die dem Unterricht und der Erziehung dieser Kinder bestimmten Anstalten und Schulen finden die Vorschriften dieses Gesetzes keine Anwendung.


Berlin, den 28. April 1920.

Der Reichspräsident
Ebert

Der Reichsminister des Innern
Koch